Taktik-Analyse #1

Französische Meisterschaft 2024, Doublette, 1/8-Finale, Saint-Yrieix-sur-Charente
SARRIO CHRISTOPHE
CLEMENT BOUSQUET
(Team Blau – B)
LOY MICHEL
COUSIN YOHAN
(Team Weiß – W)
8 – 13

(Das dazugehörige Youtube-Video wurde zwischzeitlich vom Uploader gelöscht)

Zur letzten Aunahme:
Es steht 8:8. Jeder könnte die Partie in der Aufnahme gewinnen. W legt vor, B trifft, muss aber nachlegen, weil die Schusskugel weiter von der Sau entfert liegt. B legt bequem rein, aber W schießt in der Folge ein Palet und hat nun schon zwei am Boden. B muss also wieder den Punkt legen. Das gelingt auch, aber W schießt wieder ein Palet, schon drei am Boden und auf dem Weg zu einem Royal, was die Partie gewinnen würde. Jetzt fängt blau schon mal an zu grübeln. Wohin sollen sie die Kugel legen? Richtig, nicht an die Sau, sondern in Richtung der gegnerischen Kugeln, so dass der Schuss wenigstens eine eigene rauskontern könnte bzw. der Schuss riskanter wird. Aber: Wieder ein sauberes Palet ohne Konter und 4 am Boden für W! Und jetzt beginnt die Phase der Aufnahme, für die ich dieses Video ausgewählt habe, denn die Entscheidung, die hier taktisch zu treffen gilt, ist alles andere als trivial. Beide haben noch zwei Kugeln. Was tun? Der Royal ist immer noch möglich.
Wie auch die Kommentatoren schon sagen, wäre hier ein Sauschuss zu überlegen. Und ich denke, die erfahrenen Spieler unter uns, würden auch so entscheiden. Gelingt er, ist die Aufnahme annuliert und B ist erstmal gerettet. Sie gingen mit 8:8 in eine neue Aufnahme.

Aber!!!!! Was macht B? Sie scheinen sich nicht zu einem Sauschuss durchringen zu können, sondern versuchen eine ziemlich bemerkenswerte Alternativtaktik:

!!! mit der vorletzten Kugel press an die Sau zu legen !!!,

so dass der Schuss von W die Sau ins Aus treiben würde, also wieder Neuaufnahme. Trifft W nicht, können sie nicht nochmal schießen, weil dann B noch eine dazulegen könnte und mit 10:8 in Führung ginge. Im besten Fall legt W noch eine so nah wie möglich an die Sau, und B ginge eventuell wieder mit einer Verbesserung 10.8 in Führung. Die Entscheidung für press an die Sau statt Sauschuss klingt also erstmal ziemlich schlau, wenn es gelingt. Wenn es aber nicht gelingt und die gelegte Kugel bleibt von der Sau weg, könnte W die Royal-Taktik fortsetzen.
Wie man im Video sieht, gelingt das Legen der Kugel press an die Sau nicht, sondern sie rollt ein Stück hinter die Sau und bleibt damit zum Schuss frei, wenn W die Kugel sauber trifft. Und es kommt, wie es kommen muss, W schießt auch dieses Kugel sauber mit Palet weg, und 13 liegt! Beide haben noch eine Kugel auf der Hand, und erneut ist die Entscheidung zu treffen: Press an die Sau legen oder Sauschuss. Was ist jetzt besser? Klar, der Sauschuss rettet zwar das Spiel und W ginge mit einer 9:8 Führung in die nächste Aufnahme, aber Legen press an die Sau würde B in Führung bringen, wenn W nicht trifft oder Neuaufnahme, wenn W trifft. Um diese Entscheidung nach rationalen Entscheidungskriterien zu analysieren, muss man mit Wahrscheinlichkeiten und Erwartungswerten rechnen. Aber das bekommt man in einer Minute nicht hin. Aber ich finde es bemerkenswert, dass sich B in dieser knappen Zeit für eine Taktik entschieden hat, die einen höheren Erwartungswert liefert. Ob das der Routine von Profis geschuldet ist oder einer rationalen Berechnung…?
Man kann diese Entscheidung nicht mathematisch sinnvoll begründen, ohne eine Reihe von Annahmen (A) zu treffen. Um micht zu sehr in Details zu verlieren und eine plausible Lösung zu finden, gehe ich von zwei Annahmen aus und betrachte die Spielsituation, wo beide Teams noch eine Kugel haben und Blau die Entscheidung zwischen Legen press an die Sau und Sauschuss zu treffen haben.

A1: Da es sich bei den Spielern um Profis des französischen Petanque-Verbandes handelt, unterstelle ich für beide Teams eine Trefferquote auf Sau und Kugel (mit Palet) von 80%.

A2: Blau bewertet das Überleben der Aufnahme mit V und die Niederlage mit -V.

A3: Gelingt das Legen press an die Sau nicht, liegt sie Kugel frei von der Sau und liegt an 2. In diesem Fall entscheidet sich Weiß für den Schuss, weil der Treffer den Gewinn des Spiels bedeuten würde und dies höher bewertet wird als zu versuchen, die an 2 liegende Kugel zu verbessern und mit einer 9:8 Führung in die nächste Aufnahme zu gehen.

Satz 1: Es sei x (in %) die Quote dafür, dass das Legen press an die Sau gelingt, dann gilt:
(i) Falls x > 75%, dann ist das Legen press an die Sau (P) die bessere Strategie.
(ii) Falls x < 75%, dann ist der Sauschuss (S) die bessere Strategie

Beweis: Wir berechnen den Erwartungswert für beide Strategien E(P) und E(S).

E(P): xV + (1-x)(0,2V-0,8V) = 1,6xV – 0,6V
Erläuterung: der erste Term xV ist der mit x gewichtete Wert dafür, dass es Blau gelingt, die Kugel press an die Sau zu legen und Weiß nur die Chance hat, mit einem Schuss Kugel und Sau ins Aus zu schießen. In jedem Fall erzielt Blau dann den Wert V, weil die nächste Aufnahme sicher ist. Der zweite Term ist der mit (1-x) gewichtete Wert dafür, dass es Blau nicht gelingt, die Kugel press an die Sau zu legen. Wegen A3 ist das mit einem Verlust von -0,6V aus Sicht von Blau zu bewerten.

E(S): 0,8V-0,2V = 0,6V
Erläuterung: Entweder der Sauschuss gelingt oder das Spiel ist vorbei. Wegen A2 resultiert das in einen Erwartungswert von 0,6V.

Vergleicht man die beiden Erwartungswerte, zeigt sich, dass:
E(P) > E(S), falls x > 0,75.
QED.

Der Satz lässt sich auch für allgemeine Trefferquoten von y>50% verallgemeinern. Das soll im nächsten Satz zum Ausdruck gebracht werden:

Satz 2: Es sei x aus dem Intervall (0,1) die Wahrscheinlichkeit dafür, dass das Legen press an die Sau gelingt und y im Intervall (0.5,1) die für beide Teams als gleich angenommen Wahrscheinlichkeit, mit der ein Sauschuss gelingt oder die Kugel (mit Palet) getroffen wird, dann gilt:
(i) Falls x > (2y-1)/y, dann ist das Legen press an die Sau (P) die bessere Strategie.
(ii) Falls x < (2y-1)/y, dann ist der Sauschuss (S) die bessere Strategie.
(iii) für y im Intervall (0,0.5) ist es immer besser, press an die Sau zu legen.

Beweis: (i) und (ii) ergeben sich aus dem Beweis zu Satz 1, indem man für 0,8 die Variable y und für 0,2 den Wert 1-y einsetzt. Der Beweis zu (iii) folgt aus der einfachen Logik, dass der Erwartungswert aus dem Sauschuss negativ wäre. Daher ist Legen press an die Sau die einzig vernünftige Strategie.

Fazit:
Wie Ihr seht, muss das blaue Team davon ausgegangen sein, dass es etwas besser die Kugel press an die Sau legen kann als die Sau zu treffen.
Was mir daran so gut gefällt ist der Umstand, dass selbst die turniererfahrenen Spieler unter uns wohl ohne zu Zögern den Sauschuss gemacht hätten. Man sollte aber, wie der spieltheoretische Nachweis zeigt, durchaus auch in solchen Situationen in Erwägung ziehen, die Kugel press an die Sau zu legen. Wie der Beweis zu Satz 2 zeigt, steht die Vorteilhaftigkeit des Legens press an die Sau in einem funktionalen Zusammenhang zwischen Trefferquote und der Wahrscheinlichkeit, dass das Legen press an die Sau gelingt. Liegt die Trefferquote, wie bei Profis, bei 80%, ist das Legen press an die Sau die bessere Strategie, wenn das Team glaubt, dass das in 3 von 4 Fällen geling. Im Amateuerbereich, wo die Trefferquote bei maximal 50% liegt, ist das Legen press an die Sau IMMER die bessere Strategie.


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